ERA human

1. Welche gesetzlichen Vorgaben liegen dem Environmental Risk Assessment (ERA) zugrunde?

Basierend auf Artikel 8(3) der Richtlinie 2001/83/EG ist das ERA für alle neuen Anträge auf Zulassung einer Arzneimittelspezialität gesetzlich vorgeschrieben. Das ERA ist auch bei bestimmten Änderungen bestehender Zulassungen („Variations“) und Anträgen auf Erweiterung einer Zulassung („line extensions“) erforderlich, insbesondere wenn eine Erhöhung der Umweltexposition zu erwarten ist, zum Beispiel bei neuen Indikationen oder Darreichungsformen. Jedoch wird für Verlängerungen von Zulassungen in der Regel kein ERA benötigt, es sei denn, neue umweltrelevante Daten sind verfügbar, die eine Aktualisierung der Bewertung notwendig machen.

Im Rahmen eines ERAs werden mögliche Gefahren, die von Wirkstoffen ausgehen, identifiziert und Maßnahmen zur Risikominderung sowie zur Berichterstattung behandelt. Das ERA soll im gegebenen Fall auch Vorbeuge- und Sicherheitsmaßnahmen zur Minderung eines erkannten Umweltrisikos enthalten, die sich schlussendlich in Form entsprechender Warnhinweise in der Produktinformation wieder finden sollen. Das ERA basiert auf der Anwendung der Arzneimittelspezialität sowie den physikalisch-chemischen also auch ökotoxikologischen Eigenschaften und der Abbaubarkeit des Wirkstoffs bzw. der Wirkstoffe. Die Leitlinie “Guideline on the environmental risk assessment of medicinal products for human use - Revision 1(EMEA/CHMP/SWP/4447/00 Rev. 1 - Corr.)”  ist seit 1. September 2024 in ihrer überarbeiteten Form gültig: Die Leitlinie beschreibt, wie das ERA durchgeführt wird und wie potenzielle Risiken für die Umwelt, insbesondere für aquatische und terrestrische Ökosysteme, bewertet werden. Eine Reihe von Methoden, die in dieser Leitlinie verwendet werden, basieren auf Methoden, die in der Verordnung zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH) beschrieben sind (z.B. ECHA, 2016; ECHA, 2017; ECHA 2023 a-c), den Umweltqualitätsnormen der Wasserrahmenleitlinie (EQS) (Europäische Kommission, 2018) sowie OECD-Leitfäden und technischen Leitlinien. Im Falle zukünftiger Überarbeitungen dieser Leitlinien oder der regulatorischen Übernahme neuer Tests sollte die überarbeitete Version der relevanten Methode oder des Testleitfadens verwendet werden.

Das vollständige ERA ist im eCTD-Dossier im Modul 1.6 inklusive des entsprechenden Expert Reports samt Curriculum Vitae und Unterschrift des Autors einzureichen. Fehlende Daten oder Studien sind vom Antragsteller zu begründen.

Im Interesse des Tierschutzes sollen die Prinzipien für den Ersatz und die Verringerung und Verfeinerung von Tierversuchen im Sinne der 3Rs („reduce, replace, refine“) gemäß der Richtlinie 2010/63/EU nach Möglichkeit umgesetzt werden.

Nach den aktuellen Anforderungen sollte das Ergebnis des ERAs kein Kriterium für die Ablehnung einer Marktzulassung darstellen.

Zu den genauen Kriterien, Standards und Tests sowie dem Aufbau des ERAs ist die EMA-Guideline heranzuziehen:

Guideline on the environmental risk assessment of medicinal products for human use - Revision 1(EMEA/CHMP/SWP/4447/00 Rev. 1 - Corr.)

Weitere Informationen:

https://www.ema.europa.eu/en/human-regulatory-overview/marketing-authorisation/pre-authorisation-guidance

Directive 2001/83/EC as amended

2. Warum ist die Durchführung eines ERAs erforderlich?

Ein ERA wird durchgeführt, um potenzielle Risiken und Gefahren für die Umwelt zu bewerten, die durch die Anwendung von Arzneimittelspezialitäten entstehen können. Die Bewertung im Rahmen eines ERAs bezieht sich auf Umweltrisiken, die durch die Anwendung, Lagerung und Entsorgung von Arzneimittelspezialitäten resultieren, nicht jedoch auf Risiken aus der Synthese oder Herstellung. Ziel des ERAs ist es, aquatische und terrestrische Ökosysteme zu schützen, einschließlich Oberflächenwasser, Grundwasser, Boden, Arten, die durch Sekundärvergiftungen gefährdet sind, sowie mikrobiologische Prozesse in Kläranlagen. Es gilt mögliche Gefahren der Wirkstoffe einer Arzneimittelspezialität zu identifizieren, wie etwa Stoffe, die persistent (P), bioakkumulierbar (B) und toxisch (T) sind, oder solche, die sehr persistent und sehr bioakkumulierbar (vPvB) sind.

3. Wie ist der Prozess eines ERA strukturiert?

Der ERA-Prozess verläuft in mehreren Schritten und besteht aus zwei zentralen Bewertungen: dem „Risk Assessment“ (Risikobewertung) und dem „Hazard Assessment“ (Gefahrenbewertung) des aktiven Wirkstoffes der beantragten Arzneispezialität. Bei „fixed-dose combination“-Anträgen ist für jeden Wirkstoff ein eigenes ERA erforderlich.

Es gibt zwei Phasen:

Phase I:

In der Phase I eines ERAs wird anhand von Grenzwerten für die Risiko- und Gefahrenbewertung festgestellt, ob eine detailliertere Bewertung im Zuge eines Phase II ERAs erforderlich ist. 

Risk Assessment (Risikobewertung): Es wird eine Berechnung der „Predicted Environmental Concentration“ (PEC) im Oberflächenwasser durchgeführt. Wenn der PEC-Wert ≥ 0,01 µg/L beträgt, ist eine detaillierte Bewertung in Phase II erforderlich.

Hazard Assessment (Gefahrenbewertung): Es wird anhand des log KOW (Logarithmus des n-Oktanol/Wasser-Verteilungskoeffizienten) ermittelt, ob die Substanz Eigenschaften aufweist, die unabhängig von der Expositionshöhe potenziell schädlich für die Umwelt sind. Dies betrifft vor allem Stoffe, die persistent (P), bioakkumulierbar (B) und toxisch (T) oder sehr persistent und sehr bioakkumulierbar (vPvB) sind. 

Für endokrin aktive Substanzen (EAS), Antibiotika und Antiparasitika ist ein „tailored risk assessment“ notwendig.

Phase II:

Phase II ist in zwei Stufen unterteilt: „Tier A“ und „Tier B“.

Tier A: Diese Stufe dient der Abschätzung, ob eine Substanz ein Risiko für Gewässer und Böden darstellt. Dafür werden physikalisch-chemische Eigenschaften wie Wasserlöslichkeit, n-Oktanol/Wasser-Verteilungskoeffizient und Dissoziationskonstanten ermittelt. Es werden Tests zur Adsorption an Böden und Klärschlämmen durchgeführt, um die Verteilung der Substanz zwischen den Umweltkompartimenten zu bewerten. 

Außerdem werden unter anderem Langzeittests zu aquatischer Toxizität (Algen, Daphnien, Fische) durchgeführt, um die „Predicted No Effect Concentration“ (PNEC) zu bestimmen. Diese Daten fließen in die Berechnung des Risikoquotienten (RQ) ein, der das Umweltgefährdungspotenzial abschätzt. Ist das Verhältnis zwischen PECSW/PNEC, also der RQ < 1, so ist davon auszugehen, dass kein Risiko für die Umwelt besteht.

Tier B: „Tier B“ wird durchgeführt, wenn in „Tier A“ ein Risiko festgestellt wurde, also der Risikoquotient (RQ) ≥ 1 ist. In Tier B werden detailliertere und verfeinerte Bewertungen durchgeführt. Dazu gehören verfeinerte Berechnungen der „Predicted Environmental Concentration“ (PECSW) im Oberflächenwasser unter Berücksichtigung zusätzlicher Faktoren wie Metabolismus und Abbaubarkeit. 

Darüber hinaus wird eine gezielte Risikobewertung für Boden, Grundwasser und die Gefahr der sekundären Vergiftung durchgeführt, falls bestimmte Auslösewerte erreicht wurden.

4. Für welche Verfahrensarten ist die Durchführung eines ERAs vorgeschrieben?

Das ERA ist bei verschiedenen Verfahrensarten erforderlich:

1. Neue Zulassungsanträge (MAAs):

Ein ERA ist obligatorisch für alle neuen zentralen, dezentralen und nationalen Verfahren sowie für das gegenseitige Anerkennungsverfahren:

  • Neuanträge (Vollanträge mit neuen od. bekannten Wirkstoffen)
  • Generische, bibliographische, „fixed-dose combinations“, Hybrid- und „informed consent“ Anträge sowie “biosimilar“-Anträge

2. Änderungsverfahren (Typ II-„Variations“ und „Line Extensions“):

Für Änderungsanträge (Typ II-„Variations“) und Anträgen auf Erweiterung einer Zulassung („Line Extensions“) ist ein ERA notwendig, wenn eine erwartete Erhöhung der Umweltexposition vorliegt. Typische Situationen, die eine Aktualisierung des ERA erfordern, sind:

  • Neue Indikationen, die mit einer erhöhten Exposition mit dem Wirkstoff einhergehen.
  • Neue Darreichungsformen wie zum Beispiel bei Erweiterung der Zulassung von einer oralen Darreichungsform zu transdermalen Pflastern, da diese eine neue Expositionsroute darstellen.
  • Erweiterungen der Zielpopulation, zum Beispiel bei der Zulassung eines Arzneimittels für zusätzliche Altersgruppen.
  • Erhöhung der maximalen Tagesdosis, was zu einer höheren Ausscheidung des Wirkstoffs führt.

Für Änderungs- und Erweiterungsanträge können ursprünglich bereits vorhandene ERA-Daten als Grundlage dienen, müssen jedoch entsprechend aktualisiert werden, wenn sich die Umweltexposition ändert. Der Antragsteller ist dafür verantwortlich, zu beurteilen, ob eine solche Expositionssteigerung vorliegt.

3. Verlängerung der Zulassung („Renewals“):

Ein ERA ist bei Zulassungsverlängerungen in der Regel nicht erforderlich, es sei denn, neue umweltrelevante Daten werden bekannt, die eine Aktualisierung der Bewertung notwendig machen. Diese können als Typ IB-„Variation“ (C.I.z) eingereicht werden. Dies kann etwa der Fall sein, wenn neue Studien nach der Markteinführung zeigen, dass eine Substanz in der Umwelt persistent ist oder toxische Wirkungen aufweist.

4. Gentherapien (GTMPs):

Für Arzneimittel, die genetisch veränderte Organismen (GMOs) enthalten, gelten spezielle Anforderungen, die in separaten Leitlinien beschrieben sind. Diese Produkte unterliegen speziellen Anforderungen für die Umweltverträglichkeitsprüfung, die in den Leitlinien für die Zulassung von GMO-Arzneimitteln festgelegt sind (siehe EMA Q&A 3.4.3).

Zusätzliche Hinweise zu generischen Produkten:

Für generische Arzneimittel ist ein ERA erforderlich. Wenn jedoch keine neue Umweltexposition erwartet wird (z. B. gleiche Indikation, gleiche Darreichungsform und gleiche Dosierung), kann das ursprüngliche ERA des Referenzarzneimittels als Grundlage dienen und eine Wiederholung der ERA- Studien ist nicht erforderlich. 

Ein automatischer Querverweis auf ERA-Daten des EU-Referenzarzneimittels ist nicht möglich, unabhängig davon, ob die Datenschutzfrist für das EU-Referenzarzneimittel bereits abgelaufen ist oder nicht. 

Der generische Antragssteller ist verpflichtet ein eigenes ERA zu erstellen, entweder basierend auf eigenen Daten, basierend auf Daten des EU-Referenzarzneimittels mit dessen Zustimmung in Form eines „Letter of Consent“ oder basierend auf öffentlich zugänglichen Daten, die eine vollständige und unabhängige Bewertung ermöglichen.

Eine Referenz auf ERA-Daten aus dem Dossier des EU-Referenzarzneimittels ist jedenfalls nur mit der Zustimmung des Zulassungsinhabers möglich. Daten, wie z.B. ein toxikologisches Profil oder Publikationen, die lediglich Endpunkte von Studien oder Zusammenfassungen liefern, können ein ERA nicht ersetzen, sondern lediglich ergänzen.

Darüber hinaus ist es auch nicht möglich, dass die Behörden auf ERA-Daten aus dem Dossier des EU-Referenzarzneimittels oder eines anderen ähnlichen Dossiers zugreifen ohne die Zustimmung des entsprechenden Unternehmens.

5. Gibt es Substanzen, die von einem ERA ausgenommen sind?

Im Fall von Arzneimittelspezialitäten, die eine natürlich vorkommende Substanz als aktiven Wirkstoff haben (z.B.: Vitamine, Mineralstoffe, Aminosäuren, Peptide, Proteine, Nukleotiden, Kohlenhydrate und Lipide), kann das ERA aus einer Begründung bestehen, warum kein ERA durchgeführt wurde. 

Die gleichen Kriterien gelten gemäß der Richtlinie 2004/24/EG auch für pflanzliche Arzneimittelspezialitäten. Es kann jedoch Ausnahmen geben, bei denen eine zusätzliche Begründung für das Fehlen von Studien erforderlich sein könnte, z. B. wenn ein Wirkstoff als karzinogen, mutagen oder reproduktionstoxisch (CMR) oder als PBT/vPvB eingestuft wird.

Im Allgemeinen ist es unwahrscheinlich, dass Impfstoffe ohne Adjuvantien ein Risiko für die Umwelt darstellen, sodass das ERA aus einer entsprechenden Begründung bestehen kann. 

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